Dieser Artikel wurde am 2. August 2019 von Linchuan Zhang im englischen Original im EA Forum veröffentlicht und im Jahr 2023 ins Deutsche übersetzt.

Vor ein paar Jahren habe ich für eine örtliche Diskussionsgruppe eine Übersicht über die hervorragende philosophische Arbeit von Evan G. Williams verfasst. Nach und nach wurde sie im EA-Internet verbreitet. Daraufhin wurde mir empfohlen, die Zusammenfassung einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen, was ich mit diesem Beitrag tun möchte. 

Wenn du Zeit hast, empfehle ich die Originalfassung der Arbeit zu lesen. Diese ist kostenfrei zugänglich. 

Foto von Riccardo Annandale

Zusammenfassung

I. Zentrale These

  1. Wenn man von moralischem Objektivismus ausgeht (oder einer Annäherung daran), machen wir uns wahrscheinlich unwissentlich schwerwiegender und weitreichender Untaten schuldig („andauernde moralische Katastrophe“).

II. Definition: Was ist eine moralische Katastrophe? Drei Merkmale:

  1. Es muss sich um schwerwiegende Untaten handeln (eher vergleichbar mit unrechtmäßigem Tod oder Sklaverei als mit leichten Beleidigungen oder Unannehmlichkeiten).
  2. Das Ausmaß der Untaten muss erheblich sein (im Gegensatz zu einer einzelnen unrechtmäßigen Hinrichtung oder der Folterung eines einzelnen Menschen).
  3. Weite Teile der Gesellschaft tragen durch ihr Handeln oder Nichthandeln die Verantwortung (es kann sich nicht um einseitige, unvermeidbare Maßnahmen einzelner Diktator:innen handeln).

III. Warum erleben wir unbewusst moralische Katastrophen? Zwei zentrale Argumente:

Das induktive Argument

a) Hypothese: Es ist möglich, schwerwiegende moralisch verwerfliche Taten zu begehen, auch wenn man in Übereinstimmung mit den eigenen Moralvorstellungen und denen der Gesellschaft handelt.

i) Grundgedanke: Ein ehrlicher, aufrichtiger Nazi scheint trotzdem in vielerlei Hinsicht falsch zu handeln.

ii) Dabei ist es unerheblich, ob dieses Fehlverhalten auf falschen empirischen Überzeugungen („alle Juden sind Teil einer weltweiten Verschwörung“) oder auf falschen Werten („Juden sind Untermenschen und haben keinen moralischen Wert“) basiert.

b) Dieser Annahme zufolge hat so gut wie jede größere Gesellschaft der Geschichte katastrophal falsch gehandelt.

i) Man denke nur an all die Eroberer:innen, Kreuzfahrer:innen, Kalifate, Azteken usw., die im Namen von Göttern, die sie als gütig und gerecht ansahen, Eroberungen machten.

ii) Es ist unwahrscheinlich, dass all diese Menschen nur behaupteten, gläubig zu sein, in Wirklichkeit aber Lügner waren.  

iii) Existenzbeweis: Menschen sind in der Lage, großes Unheil anzurichten, ohne sich dessen bewusst zu sein.

c) Dass wir permanent moralische Katastrophen erleben, ist nicht nur möglich, sondern äußerst wahrscheinlich.

i) Wir unterscheiden uns nur unwesentlich von früheren Generationen. Hunderte von Generationen vor uns haben schon geglaubt, im Recht zu sein und die einzig wahre Moral gefunden zu haben.

ii) Noch in der Generation unserer Eltern war die Ansicht, dass einige Menschen aufgrund ihrer Ethnie, Sexualität usw. mehr Rechte haben als andere, weit verbreitet. 

iii) Wir leben in einer Zeit des moralischen Umbruchs, in der unsere Moral eine völlig andere ist als die unserer Großeltern.

iv) Selbst wenn irgendwann eine Generation tatsächlich die Gesamtheit aller moralischen Wahrheiten herausfinden sollte, scheint es wahrscheinlich, dass die Generation der Eltern dieser Generation schon fast alle moralischen Wahrheiten entdeckt haben wird. 

Das disjunktive Argument

a) Auch Aktivist:innen sind von den zuvor aufgeführten Argumenten nicht ausgenommen. Auch wenn all ihre Projekte verwirklicht werden, bedeutet das nicht, dass unsere Gesellschaft gut ist, da weiterhin unbekannte moralische Katastrophen auftreten können.

b) Es gibt so viele verschiedene Art und Weisen, auf die eine Gesellschaft falsch agieren kann, dass es fast unmöglich ist, wirklich alles richtig zu machen.

i) Hierbei handelt es sich nicht um Kleinigkeiten: Wir könnten uns auf eine derart gravierende Art und Weise irren, die zumindest näherungsweise vergleichbar mit dem Ausmaß des Holocausts ist.

c) Es gibt viele verschiedene Möglichkeiten, wie eine Gesellschaft sich irren kann.

i) Wir könnten uns darüber irren, wer einen moralischen Status hat (z. B. Föten oder Tiere).

ii) Wir könnten in der Frage, was moralisch gesehen relevante Personen schädigt oder verletzt, empirisch falsch liegen (z. B. religiöse Indoktrination von Kindern).

iii) Wir könnten mit hinsichtlich mancher Verpflichtungen richtig liegen, hinsichtlich anderer aber nicht.

  1. Wir können unmoralisch handeln, wenn wir einer vermeintlichen moralischen Verpflichtung zu viel Aufmerksamkeit schenken und Ressourcen entsprechend aufwenden (z. B. Kreuzritter).

iv) Wir könnten Recht haben mit dem, was wir für verkehrt und änderungsbedürftig halten, aber falsch liegen, wenn es darum geht, wie wir verschiedene Lösungsansätze priorisieren.

v) Wir könnten Recht haben mit dem, was wir für verkehrt und änderungsbedürftig halten, aber uns in der Frage irren, was in unserer Verantwortung liegt und was nicht (z. B. Armut, Staatsgrenzen).

vi) Wir könnten uns über die ferne Zukunft irren (z. B. Natalismus, existenzielle Risiken).

d) Innerhalb der jeweiligen Kategorie gibt es mehrere Möglichkeiten, sich falsch zu verhalten.

i) Hinzu kommt, dass sich einige gegenseitig ausschließen. So könnten z. B. Abtreibungsgegner:innen mit ihrem Standpunkt, dass Abtreibung eine große Sünde ist, Recht haben. Andersherum kann es aber auch sein, dass Föten keinerlei Bedeutung haben und es äußerst unmoralisch ist, Frauen ihrer Freiheit zu berauben, Schwangerschaften auf eigenen Wunsch zu beenden.

ii) Es ist unwahrscheinlich, dass wir uns bei all diesen gegensätzlichen Standpunkten bereits in der goldenen Mitte befinden.

e) Hier kommt die Disjunktion ins Spiel.

i) Selbst wenn man davon ausgeht, dass wir bei beispielsweise 15 wesentlichen Konflikten zu jeweils 95 % richtig liegen, beträgt die Gesamtwahrscheinlichkeit darüber, dass wir richtig liegen, gerade einmal ~ 0,9515 46 %. (LZ: Setzt Unabhängigkeit voraus.)

ii) In der Praxis scheint eine 95-prozentige Wahrscheinlichkeit, dass wir richtig liegen, durchaus zweifelhaft. Zudem ist 15 eine äußerst gering bemessene Anzahl an Konflikten.

IV. Was können wir dagegen tun?

  1. Eine bereits verworfene Methode ist die Absicherung. In anderen Worten: Wenn du dir nicht sicher bist, gehe moralisch gesehen „auf Nummer sicher“.

a) Beispiel: Selbst wenn du der Meinung bist, dass Nutztiere vermutlich nicht empfindungsfähig sind oder dass Empfindungsfähigkeit moralisch keine Rolle spielt, kannst du „vorsichtshalber“ Vegetarier werden.

b) Dies ist keine zuverlässige Lösung und funktioniert in der Regel NICHT gut genug. Denn wie bereits erwähnt, können zu viele Dinge schief gehen, einige davon in widersprüchliche Richtungen.

  1. Anerkennung von Fehlverhalten
  2. Umsetzung verbesserter Werte

a) Sobald wir erkennen, welch gravierendes moralisches Unrecht wir begangen haben, sollten wir idealerweise in der Lage sein, moralische Reparaturen für diese Fehler zu leisten. In jedem Fall sollten wir aber versuchen, ähnliche Fehler in Zukunft schnellstmöglich zu vermeiden.

b) Um dies zu erreichen, müssen wir die Flexibilität der materiellen Bedingungen maximieren.

i) Extrem arme oder vom Krieg zerrissene Gesellschaften wären nicht in der Lage, die erforderlichen schnellen moralischen Veränderungen umzusetzen.

ii) Beispiel LZ: Komplexe Systeme, die nach bestimmten Mustern aufgebaut sind, erweisen sich als weniger widerstandsfähig gegen Desaster und sind außerdem schwieriger zu verändern (vgl. Antifragilität).

iii) Ähnlich wie wir Ressourcen für Kriegsvorbereitungen ansparen, wäre es eventuell sinnvoll, ebenso Ressourcen für künftige moralische Notsituationen zurückzulegen. So könnten wir z. B. Reparationszahlungen leisten oder zumindest schnell erforderliche Änderungen vornehmen.

  1. LZ: Ich bin mir nicht sicher, ob und wie dies tatsächlich möglich wäre: Einzelpersonen sparen in der Regel, indem sie investieren. Regierungen sparen, indem sie die Schulden anderer Regierungen aufkaufen oder in den privaten Sektor investieren. Allerdings ist unklar, wie die Welt im Ganzen betrachtet „spart“.

c) Erstrebenswert ist eine größtmögliche Flexibilität der sozialen Bedingungen.

i) Selbst wenn es in materieller Hinsicht möglich wäre, umfangreiche Veränderungen umzusetzen, könnte die Gesellschaft einer solchen Umstrukturierung aufgrund von Trägheit und Konservatismus im Wege stehen.

ii) So sind beispielsweise Verfassungsänderungen als Maßnahme fragwürdig.

V. Schlussfolgerung und Anmerkungen

  1. Erstes Gegenargument: Eine Gesellschaft aufzubauen, die moralische Katastrophen korrigieren kann, und die tatsächliche Korrektur moralischer Katastrophen sind zwei verschiedene Dinge.
  2. Zweites Gegenargument: Viele der oben genannten Maßnahmen zur Behebung moralischer Katastrophen könnten selbst unmoralisch sein.

a) Beispielsweise könnte das Geld, das für die Moralforschung ausgegeben wird, auch für die Bekämpfung der weltweiten Armut eingesetzt werden; der Aufbau einer maximal flexiblen Gesellschaft ist möglicherweise mit drastischen Einschränkungen von Menschenrechten verbunden.

  1. Kurzfristig gesehen sind die beschriebenen Maßnahmen dennoch nützlich.

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