Dieser Artikel wurde am 11. Juni 2009 von Kurt Kleiner im englischen Original (Why Smart People Do Stupid Things) im Magazin der University of Toronto veröffentlicht und am 18. Dezember 2012 von Adrian Hutter frei ins Deutsche übersetzt.

Illustration von James Joyce

Intelligenz alleine macht noch nicht rational. Rational zu denken verlangt mentale Fähigkeiten, die einige von uns nicht haben und viele nicht nutzen. „Wie kann sich ein so kluger Mensch so dumm verhalten?” – Wir alle haben uns dies schon gefragt, nachdem wir gesehen haben, wie eine äußerst intelligente Freundin oder ein Verwandter sich wie ein Dummkopf verhalten hat.

Menschen kaufen, wenn die Preise hoch sind, und verkaufen, wenn sie tief sind. Sie glauben an ihr Horoskop. Sie können sich nicht vorstellen, dass ihnen das passieren könnte. Sie setzen alles auf schwarz, weil schwarz „überfällig” ist. Sie bestellen eine extragroße Portion Pommes mit einer Cola Light. Sie benutzen ihr Handy, während sie am Steuer sitzen. Sie wetten darauf, dass eine Finanzblase nie platzen wird.

Du hast auch schon etwas ähnlich Dummes getan. Ebenso wie ich. Professor Keith Stanovich sollte es besser wissen, aber auch er hat schon dumme Fehler gemacht. Stanovich ist außerordentlicher Professor für Entwicklungs- und Angewandte Psychologie an der Universität Toronto und erforscht Intelligenz und Rationalität. Der Grund dafür, dass kluge Menschen dumme Dinge tun, so Stanovich, ist, dass Intelligenz und Rationalität nicht dasselbe sind.

Intelligenz und Rationalität – Teil 1

„Es gibt eine begrenzte Menge an kognitiven Fähigkeiten, die wir messen und Intelligenz nennen. Aber das ist nicht dasselbe wie intelligentes Verhalten in der realen Welt”, erklärt Stanovich. Er hat sogar einen Begriff kreiert, um das Unvermögen, rational zu handeln – trotz eigentlich hinreichender Intelligenz – zu beschreiben: „Dysrationalität”.

Die Frage, wie Intelligenz definiert und gemessen werden soll, ist mindestens seit dem Jahr 1904 kontrovers, als Charles Spearman die Vorstellung verbreitete, dass ein „allgemeiner Intelligenzfaktor” die Grundlage aller kognitiven Funktionen bildet. Andere sind der Ansicht, dass sich Intelligenz aus vielen verschiedenen kognitiven Fähigkeiten zusammensetzt. Einige wollen den Intelligenzbegriff um emotionale und soziale Intelligenz erweitern.

Stanovich ist überzeugt, dass jene Intelligenz, die ein IQ-Test misst, ein sinnvolles und nützliches Konstrukt ist. Es geht ihm nicht darum, unsere Definition von Intelligenz zu erweitern, sondern er gibt sich mit der kognitiven Intelligenz zufrieden. Er vertritt aber die Auffassung, dass Intelligenz alleine kein Garant für rationales Verhalten ist.
Im Jahr 2010 wurde Stanovichs Buch What Intelligence Tests Miss: The Psychology of Rational Thought veröffentlicht. Darin führt er eine ganze Reihe kognitiver Fähigkeiten und Dispositionen an, die von Intelligenz unabhängig sind und einen mindestens ebenso großen Einfluss darauf haben, ob jemand rational denkt und handelt. In anderen Worten: Man kann intelligent, aber irrational sein. Und man kann rational denken, ohne über besondere Intelligenz zu verfügen.

Eine Aufgabe, die 80 % falsch beantworten

Zeit für eine Denkaufgabe. Versuche, die folgende Frage zu beantworten, bevor du weiterliest. Jack schaut Anne an, aber Anne schaut George an. Jack ist verheiratet, aber George nicht. Schaut eine verheiratete Person eine unverheiratete an?

  • Ja.
  • Nein.
  • Kann nicht entschieden werden.

Über 80 Prozent der Menschen beantworten diese Frage falsch. Falls deine Antwort war, dass die Frage nicht entschieden werden kann, gehörst du auch zu ihnen. (Wie ich.) Die korrekte Antwort ist: Ja, eine verheiratete Person schaut eine unverheiratete an.

Die meisten glauben, dass wir zu wissen brauchen, ob Anne verheiratet ist oder nicht. Doch gehe alle Möglichkeiten durch. Wenn Anne ledig ist, schaut eine verheiratete Person (Jack) eine ledige Person an (Anne). Wenn Anne verheiratet ist, schaut eine verheiratete Person (Anne) eine unverheiratete Person (George) an. In beiden Fällen ist die Antwort folglich Ja.
Die meisten Menschen verfügen über die Intelligenz, auf diese Lösung zu kommen, wenn man ihnen sagt „denke logisch” oder „gehe alle Möglichkeiten durch”. Aber ohne Anstoß wenden sie nicht ihre ganzen mentalen Kapazitäten für das Problem auf.

Dies ist einer der Hauptgründe für Dysrationalität, so Stanovich. Wir alle sind „kognitive Geizhälse”, die es vermeiden, zu viel zu denken. Aus einer evolutionären Perspektive ergibt das durchaus Sinn. Denken kostet Zeit, ist ressourcenintensiv und manchmal kontraproduktiv. Wenn es sich bei dem Problem, das gerade vorliegt, darum handelt, einem Säbelzahntiger zu entkommen, lohnt es sich nicht, mehr als einen Sekundenbruchteil für die Entscheidung zu verwenden, ob man in einen Fluss springen oder auf einen Baum klettern will.

Framing- und Anchoring-Effekt

Wir haben deshalb eine ganze Reihe von Heuristiken und kognitiven Verzerrungen („biases”) entwickelt, um die Menge an Hirnschmalz zu beschränken, die wir für ein Problem aufwenden. Diese Techniken führen zu raschen Antworten, die häufig richtig sind – aber nicht immer.

Zum Beispiel zeigte eine Forscherin in einem Experiment den Teilnehmenden eine Schüssel, gefüllt mit mehrheitlich weißen Süßigkeiten, und versprach ihnen einen Dollar, wenn es ihnen gelingt, blind eine rote zu ziehen. Die Teilnehmenden konnten dabei zwischen zwei Schüsseln wählen. Die eine Schüssel enthielt neun weiße Süßigkeiten und eine rote. Die andere enthielt 92 weiße und acht rote. 30 bis 40 Prozent der Testpersonen entschieden sich, aus der größeren Schüssel zu ziehen, obwohl die meisten verstanden, dass eine achtprozentige Gewinnchance schlechter ist als eine zehnprozentige. Die visuelle Verlockung der zusätzlichen roten Süßigkeiten beeinträchtigte ihr Verständnis von Wahrscheinlichkeiten.

Oder gehe gedanklich das folgende Problem durch: Ein Krankheitsausbruch wird voraussichtlich 600 Menschen umbringen, falls nichts unternommen wird. Es gibt zwei Behandlungsmethoden: Option A wird 200 Menschen retten. Option B wird mit einer Wahrscheinlichkeit von einem Drittel 600 Menschen retten und mit einer Wahrscheinlichkeit von zwei Dritteln niemanden. Die meisten Menschen entscheiden sich für A. Es ist besser, wenn 200 Menschen garantiert gerettet werden, als das Risiko einzugehen, dass alle sterben.
Stellt man jedoch die folgende Frage – Option A bedeutet, dass 400 Menschen sterben werden, und Option B lässt mit einer Wahrscheinlichkeit von einem Drittel niemanden sterben und mit einer Wahrscheinlichkeit von zwei Dritteln 600 Menschen – wählen die meisten Menschen Option B. Sie riskieren, alle zu töten bzw. sterben zu lassen, um dafür die geringere Chance zu erhalten, alle zu retten.

Aus einer rationalen Perspektive ist das Problem dabei, dass die beiden Szenarien identisch sind. Der einzige Unterschied ist, dass die Frage umformuliert wird, um die 400 Toten in Option A zu betonen und nicht die 200 Geretteten. Man nennt dies den „Framing-Effekt”. Er zeigt, dass die Art, wie eine Frage gestellt wird, einen dramatischen Einfluss auf die Antwort hat, die wir zu geben geneigt sind, und zu widersprüchlichen Antworten führen kann.

Außerdem gibt es den „Anchoring-Effekt”. In einem Experiment haben Forschende ein Rad gedreht, das so präpariert war, dass es entweder bei der Zahl 10 oder bei 65 hielt. Nachdem das Rad gestoppt hatte, fragten die Forschende ihre Teilnehmenden, ob der Anteil afrikanischer Länder in den Vereinten Nationen höher oder tiefer sei als diese Zahl. Darauf baten sie die Teilnehmenden, diesen Anteil zu schätzen. Diejenigen, die die größere Zahl gesehen hatten, schätzten signifikant höher als jene, die die tiefere Zahl gesehen hatten. Die Zahl wurde zum „Anker” für ihre Antwort, obwohl sie die Zahl richtigerweise für völlig beliebig und bedeutungslos hielten.

Confirmation Bias und Mindware Gaps

Die Liste geht weiter. Wir suchen nach Hinweisen, welche unsere Überzeugen bestätigen, und lassen jene unberücksichtigt, welche sie in Frage stellen („Confirmation Bias”). Wir betrachten Situationen aus unserer eigenen Perspektive, ohne jene der anderen Seite zu berücksichtigen. Eine anschauliche, aber probabilistisch praktisch bedeutungslose Anekdote beeinflusst uns stärker als hoch aussagekräftige Statistiken. Wir überschätzen, wie viel wir wissen. Wir halten uns für überdurchschnittlich. Wir sind überzeugt, dass wir weniger von Biases beeinflusst sind als die anderen („Bias blind spot”).

Schließlich identifiziert Stanovich eine weiter Quelle der Dysrationalität – er nennt sie „Mindware Gaps” (etwa: Verstandes- oder Wissenslücken). Unsere Mindware, erklärt er, besteht aus gelernten kognitiven Regeln, Strategien und Glaubenssystemen. Sie beinhaltet unser Verständnis von Wahrscheinlichkeiten und Statistik ebenso wie unsere Bereitschaft, alternative Hypothesen zu berücksichtigen, wenn wir versuchen, ein Problem zu lösen. Die richtige Mindware kann – im Gegensatz zur Intelligenz – besser erlernt werden. Allerdings eignen sich manche hochintelligente und gebildete Menschen nie angemessene Mindware an. Menschen können auch an „kontaminierter Mindware” leiden, etwa an Aberglauben, was zu irrationalen Entscheidungen führt.

Intelligenz und Rationalität – Teil 2

Laut Stanovich hat Dysrationalität wichtige Auswirkungen in der Realität. Sie kann finanzielle Entscheidungen ebenso beeinflussen wie die welche Politiker:innen man wählt, sowie allgemeiner die Fähigkeit, das Leben zu führen, das man führen will. Zum Beispiel haben Stanovich und seine Mitarbeitenden herausgefunden, dass Glücksspielsüchtige in verschiedenen Rationalitätstests schlechter abschneiden als die meisten anderen Menschen. Sie treffen impulsivere Entscheidungen, ziehen die zukünftigen Konsequenzen ihrer Handlungen weniger in Betracht und glauben häufiger an Glücks- und Pechszahlen. Auch was das Verständnis von Wahrscheinlichkeit und Statistik betrifft, schneiden sie schlecht ab. Zum Beispiel verstehen sie weniger häufig, dass, wenn fünf Münzwürfe in Folge „Kopf” ergeben haben, dies die Wahrscheinlichkeit für „Zahl” beim nächsten Wurf nicht erhöht. Ihre Dysrationalität macht sie häufig nicht nur zu schlechten Spielern:innen, sondern auch zu Glücksspielsüchtigen – Menschen, die weiterspielen, obwohl sie sich selbst, ihre Familie und ihre Existenzgrundlage schädigen.

In seiner Forschungskarriere hat Stanovich die Pionierarbeit verfolgt, welche Wirtschaftsnobelpreisträger Daniel Kahneman und sein Mitarbeiter Amos Tversky auf dem Gebiet der Heuristiken und kognitiven Verzerrungen geleistet haben. Stanovich begann 1994, die Resultate von Rationalitätstests mit den Resultaten der gleichen Personen in konventionellen Intelligenztests zu vergleichen. Er fand heraus, dass sie nicht viel gemeinsam haben. Bei einigen Aufgaben sind rationales Denken und Intelligenz fast vollständig unabhängig voneinander. Zum Beispiel könntest du viel rationaler denken als jemand, der viel klüger ist als du. Ebenso hat eine Person mit Dysrationalität mit fast der gleichen Wahrscheinlichkeit eine überdurchschnittliche wie eine unterdurchschnittliche Intelligenz.

Um zu verstehen, woher die Rationalitätsunterschiede zwischen verschieden Personen kommen, empfiehlt Stanovich, sich den Verstand dreigeteilt vorzustellen. Erstens gibt es den autonomen Verstand, welcher problematische kognitive Abkürzungen verwendet. Stanovich nennt das „Typ-1-Verarbeitung”. Sie geschieht schnell, automatisch und ohne bewusste Kontrolle.
Der zweite Teil ist der algorithmische Verstand. Dieser beschäftigt sich mit „Typ-2-Verarbeitung”, dem langsamen, mühsamen, „logischen” Denken, welches Intelligenztests messen.
Der dritte Teil ist der reflektierende Verstand. Er entscheidet, wann die Urteile des autonomen Verstandes genügen und wann die schwere Maschinerie des algorithmischen Verstandes zu Rate gezogen werden soll. Der reflektierende Verstand scheint entscheidend dafür zu sein, wie rational jemand ist. Der algorithmische Verstand kann sich in voller Gefechtsbereitschaft befinden, er kann dir aber nicht helfen, wenn du ihn nicht richtig in Anspruch nimmst.

Wann und wie der reflektierende Verstand aktiv wird, hängt mit mehreren Persönlichkeitsmerkmalen zusammen, etwa ob jemand dogmatisch, flexibel, aufgeschlossen oder gewissenhaft ist oder mit Mehrdeutigkeiten umgehen kann. „Unflexible Personen haben beispielsweise Mühe, neues Wissen zu integrieren”, führt Stanovich aus. „Personen mit einem starken Bedürfnis, Aufgaben abzuschließen, legen die Arbeit bei der erstbesten Lösung nieder. Eine bessere Lösung zu finden, würde mehr kognitive Anstrengung erfordern.”

Denkstrategien

Zum Glück kann rationales Denken gelehrt und gelernt werden. Stanovich denkt, das Schulsystem sollte viel mehr Gewicht darauf legen, die Grundlagen des statistischen und wissenschaftlichen Denkens zu vermitteln. Gleiches gilt für allgemeinere Denkstrategien. Studien zeigen, dass eine gute Methode zur Verbesserung des kritischen Denkens darin besteht, sich jeweils systematisch das Gegenteil vorzustellen. Ist dies einmal zur Gewohnheit geworden, hilft es nicht nur, viele mögliche Alternativhypothesen zu berücksichtigen, sondern auch bei der Vermeidung des Anchoring-Effekts und des Confirmation Bias.

Stanovich spricht sich dafür aus, dass Psycholog:innen Tests zur Ermittlung eines Rationalitätsquotienten (RQ) entwickeln, welche dann IQ-Tests ergänzen können. „Ich bin nicht notwendigerweise dafür, allen Menschen Tests aufzuzwingen”, sagt er. „Aber wenn man kognitive Funktionen schon testet, warum soll man sich dann auf einen IQ-Test beschränken, der nur einen bestimmten Bereich der kognitiven Funktion misst?”

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Quellen

Kleiner, K. (2009). Why smart people do stupid things. University of Toronto Magazine.
Stanovich, K. (2009). What intelligence tests miss: The psychology of rational thought. New Haven: Yale University Press.